Eine rationale Entscheidungsfindung auf gesellschaftlicher, aber auch auf unternehmerischer Ebene verlangt im Grunde zweierlei: eine offene und faire Beratschlagung unter Beteiligung der Betroffenen ber die beste Lsung (Deliberation) und ein systematisches Einbringen aller problemrelevanten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse durch Fachleute (Expertise)  was beides zusammen jedoch gar nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Ursachen und Lsungen hierfr werden vorgestellt.

Labyrinth

Paul Campbell/Unsplash

Ob im gesellschaftlich-politischen Bereich oder in organisationalen Kontexten – rationale Entscheidungsfindungen sind hier wie dort von essentieller Bedeutung. Deliberation, d.h. das Bedenken und Beratschlagen von Entscheidungsalternativen unter Beteiligung der Betroffenen, gilt dabei als ein Verfahren, das eine besondere Vielfalt von Sichtweisen und Überlegungen einzubringen vermag und deshalb einen hohen Grad an Vernunft, aber auch eine breite Legitimation der Entscheidung gewährleisten kann. Expertise, d.h. die Einbringung von spezifischem Fachwissen durch wissenschaftlich-technische Experten in Entscheidungsprozesse ist ein weiteres Verfahren, das in komplexen Entscheidungssituationen als praktisch unverzichtbar gilt. Strategisch bedeutsame Entscheidungen könnten eingedenk dessen nun in der Weise optimiert werden, dass beide Verfahren Anwendung finden, sprich: Expertise in Deliberationsprozesse einfließt. Genau dies ist jedoch nicht ohne Fallstricke, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt.

Deliberation und Expertise – Erläuterungen zu den Begriffen

Der Begriff der Deliberation hat seinen Ursprung im römischen Rechtssprichwort: „Deliberandum est diu quod statuendum est semel“, was übersetzt bedeutet: Es ist längere Zeit zu bedenken, was ein für allemal festzusetzen ist. Deliberationsprozesse beinhalten folglich ein genaues Betrachten, ein umfassendes Bedenken sowie ein ausführliches und sachliches Beratschlagen von bedeutsamen Entscheidungsproblemen durch die Entscheidungsbetroffenen. In diesem Sinne liest sich auch Daniel Arenas‘ (2024, S. 2) Charakterisierung der sog. deliberativen Demokratie:

Die deliberative Demokratie legt Wert auf die Beteiligung aller potenziell betroffenen Gruppen an öffentlichen Debatten über politische Maßnahmen. Ebenso stehen hier nicht Zwang, Manipulation und Indoktrination im Vordergrund, sondern Reflexion und Überzeugung.

Der Deliberationsbegriff weist aktuell neben Bezugnahmen auf eine gute und starke Demokratie auch Bezüge zum organisationalen Bereich auf, sei es im Hinblick auf eine interessenplurale(re) Ausgestaltung der Corporate Governance (vgl. exemplarisch Zeitoun/Osterloh/Frey 2014), sei es im Hinblick auf die Führung von sog. Stakeholder-Dialogen (vgl. exemplarisch Schreyögg 2013) im Rahmen des strategischen Managements. Die praktische Forderung nach mehr öffentlicher Deliberation korrespondiert dabei eng mit den theoretischen Überlegungen zur sog. Diskursethik (Habermas 1991), die ihrerseits allerdings der Kritik unterliegen, allzu idealistisch angelegt zu sein, sprich: einen allgemeinen Willen zu Verständigung und Vernunft zu unterstellen, wo tatsächlich Manipulation und Sanktion vorherrschen, und auf konsensfähige Entscheidungsfindungen abzuzielen, wo tatsächlich Konflikte und Machtausübungen dominieren.

Der Begriff der Expertise steht demgegenüber für den Einbezug von Spezialisten für solche Themengebiete, die im Rahmen eines Entscheidungsprozesses von grundlegender Bedeutung erscheinen und hinsichtlich derer normale Politiker, Bürger oder auch Führungskräfte kaum oder keine Fachkompetenz besitzen. Zu denken ist hier an Themenfelder wie Klimawandel, Künstliche Intelligenz, Nukleartechnik, je nachdem aber auch Recht oder Ethik. So unbestritten die Notwendigkeit des Einbezugs von Spezialisten in politische wie unternehmerische Entscheidungsprozesse ist, so begründet ist auch die Warnung, dass ein dauerhaftes Zuviel an Expertise potenziell in einer Expertenherrschaft (Expertokratie) münden kann, die letztlich dann für keine öffentliche Deliberation mehr offensteht.

Vor allem natürlich vor dem Hintergrund der potenziell überaus positiven Wirkungen beider Verfahren auf die Qualität der Entscheidungsfindung erscheint es nun naheliegend, beide gemeinsam zu nutzen, Expertise also in Deliberationsprozesse einfließen zu lassen – was, wie jüngst eine Untersuchung von Daniel Arenas (2024) herausarbeitete, jedoch von einigen Problemen begleitet sein kann.

Probleme einer rationalen Entscheidungsfindung bei der Zusammenführung von Deliberation und Expertise

Die Arbeit von Daniel Arenas (2024) gründet auf einer Literaturanalyse, nämlich Henrik Ibsens Werk „Ein Volksfeind“ aus dem Jahre 1882. Diese Referenz wollen wir hier allerdings vernachlässigen und unmittelbar auf zentrale Untersuchungsergebnisse eingehen, welche Experten als„problematische Teilnehmer“ von öffentlichen Beratschlagungsprozessen ausweisen, wofür vier Ursachen ausgemacht werden:

  • Manipulationen an den Bedingungen der Deliberation, was häufig von mächtigen und einseitig interessenorientierten Akteuren betrieben wird und zu verhindern sucht, dass bestimmte (kritische) Expertisen angemessen in den Deliberationsprozess einfließen können. Genau dieses war nach Einschätzung des Autors über lange Zeit bei der „Verlinkung“ von Tabakkonsum und Lungenkrebs zu beobachten, und wird heute nach wie vor mit Blick auf die Nutzung fossiler Energien und ihre Wirkungen auf das globale Klima betrieben. Das heißt: Unliebsame Expertisen können gezielt aus dem Deliberationsprozess eliminiert und politische Entscheidungen somit effektiv manipuliert
  • Ausnutzung der Verletzlichkeiten von Experten: Hier wird bedeutet, dass interessenpolitisch motivierte Akteure ebenso die Vertrauenswürdigkeit der Experten selbst beschädigen können, indem ihnen eigeninteressierte oder fremdgesteuerte Handlungsweisen unterstellt werden und damit gleichsam deren Integrität in Zweifel gezogen wird. Dies macht Experten zum Objekt der Wut und des Hasses von anderen und erzeugt bei ihnen selbst wahlweise Ärger, Frustration und/oder Ängste. Man denke in diesem Zusammenhang an exponierte Virologen während der Corona-Pandemie oder auch an bekannte Whistleblower, die relevante Missstände aufzeigen und sich dafür organisationaler Vergeltung bzw. staatlicher Verfolgung ausgesetzt sehen.
  • Außerachtlassung der Grenzen einer Expertise: Hier liegt das Problem auf Seiten der Experten, wenn diese nämlich ihrerseits der Fehlannahme unterliegen, dass die richtige Entscheidung allein schon aus der wissenschaftlich-technischen Expertise abgeleitet werden könne und alle Nicht-Experten im Zuge der Entscheidungsfindung folglich überhaupt nicht gehört werden müssen – Deliberation mithin also überflüssig
  • Unfähigkeit zur Übersetzung der Fachterminologie in Alltagssprache: Ein weiteres Problem ist schließlich die verbreitete Erfahrung, dass es Experten häufig misslingt, fachspezifische Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass sie den lebenspraktisch Betroffenen verständlich werden. Eine solche verbale Unfähigkeit der Experten setzt unmittelbar auch deren Vertrauenswürdigkeit herab und bewirkt, dass Expertise keinen Eingang in die weitere Deliberation zu finden vermag.

Diese skizzierten Problematiken lassen sich gut rekonstruieren anhand der begrifflichen Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt (Habermas 1981), da hier ja letztlich die spannungsreichen Beziehungen zwischen (systemischen) Experten und (lebensweltlichen) Nicht-Experten den Kern des Problems für eine rationale Entscheidungsfindung ausmachen.

Überlegungen zum notwendigen „Brückenbau“ zwischen Expertise und Deliberation für eine rationale Entscheidungsfindung

Um den wenig attraktiv erscheinenden (Pseudo-)Alternativen „Deliberation ohne Expertise“ einerseits und „Expertokratie ohne Deliberation“ andererseits zu entgehen, erscheint es für eine rationale Entscheidungsfindung geboten, einen „Brückenbau“ zwischen den entscheidungsbezogenen Verfahrensweisen zu betreiben, der die benannten Problematiken zu umschiffen sucht. Im Besonderen lassen sich mit Arenas (2024) hier folgende Maßgaben herausstellen:

  • Commitment auch und gerade mächtiger Akteure gegenüber vernunftorientierten Deliberationsprozessen, sprich: Verzicht auf reine „Show-Veranstaltungen“.
  • Keine Zurückhaltung von bedeutsamen Informationen (z.B. unliebsame Expertisen) und keine Verunglimpfung von beteiligten Personen (z.B. unliebsame Experten) durch mächtige Akteure.
  • Commitment der Experten gegenüber entscheidungsoffenen Deliberationsprozessen, d.h. Anerkennung von (politisch-lebensweltlichen) Aspekten des Entscheidungsproblems, die jenseits der wissenschaftlich-technischen Expertise liegen.
  • Anerkenntnis der Begrenztheit ihrer Aufgabe innerhalb von Deliberationsprozessen durch die Experten, sprich: Beschränkung auf eine objektive Diagnose der Situation sowie begründete Prognosen über die jeweiligen Konsequenzen alternativer Entscheidungsmöglichkeiten, bei gleichzeitigem Verzicht auf eine dezidierte Festlegung hinsichtlich der „richtigen“ Entscheidung.
  • Vertrauensaufbau seitens der Experten durch Verdeutlichung der Unabhängigkeit und Neutralität ihrer Expertise.
  • Vertrauensaufbau seitens der Experten durch Nutzung einer Sprache, die für Nicht-Experten gut verständlich ist („öffentliches Verstehen der Wissenschaft“), dies bei entgegenkommenden Bemühen der Nicht-Experten um ein Verstehen der Wissenschaftssprache („wissenschaftliches Verstehen der Öffentlichkeit“).

Wie bei normativen Ideen bzw. Idealen üblich, so sind auch diese Vorgaben natürlich vor allem als Fixpunkte zu verstehen, denen die Realitäten allzu häufig nicht entsprechen, die gleichwohl eine präzise Zielfunktion für eine bessere Ausgestaltung von realen Entscheidungssituationen abgeben. So schließt denn auch Daniel Arenas (2024, S. 15) seine Überlegungen zum Thema mit der „Soll-Vorgabe“:

Die Beziehung zwischen Experten und Laien (…) kann nicht eine Beziehung sein, in der Experten das Wissensmonopol haben (…), sondern muss eine Beziehung sein, in der alle gemeinsam beraten, zusammenarbeiten und angewandtes Wissen mitgestalten.

Arenas, D. (2024): Experts and democratic deliberation: Insights from An Enemy of the People. In: Academy of Management Review, https://doi.org/10.5465/amr.2023.0219

Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a.M.

Habermas, J. (1991): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M.

Schreyögg, G. (2013): Stakeholder-Dialoge: Zwischen fairem Interessenausgleich und Imagepflege, Berlin

Zeitoun, H./Osterloh, M./Frey, B.S. (2014): Learning from the ancient Athens: Demarcy and cpororate Governance. In: Academy of Management Perspectives, 28(1), S. 1-14